Tatsächlich hielt man die Sorte aufgrund all dieser Attribute für die Mutation einer weißen Sorte, was sich aber letztlich doch als PR-Gag des 19. Jahrhunderts erwies, als man Struktur, Trinkfluss und Finesse noch etwas abgewinnen konnte. Luigi Veronelli, der größte unter den vielen großen Kritikern Italiens, meinte sie wäre anarchistisch & individaulistisch. Als wäre das noch nicht genug, haben zudem findige Linguisten eruiert, dass sich Grignolino vom piemontesischen Dialektausdruck grignolè ableitet, was sich – eine onomatopoetische Referenz an die bisweilen knirschende Säure und krachenden Tannine – mit das Gesicht verziehen und mit den Zähne knirschen übersetzen lässt.
Und doch gibt es Leute, die Grignolino nicht nur mögen, sondern sie für eine der großen Unbekannten im italienischen Rebsortenuniversum halten; mich zum Beispiel, vor allem aber Ian d’Agata, dessen fulminantem Buch Native Wine Grapes of Italy essentielle Informationen zur Sorte entnommen sind.
Darin liest man beispielsweise, dass Grignolino im 13. Jahrhundert erstmals erwähnt wurde und damals auf der gleichen Stufe wie Nebbiolo stand, also ziemlich hoch oben. Im Laufe der Jahrhunderte räumte sie freilich ihren Platz im Olymp, was der Rebsorte insofern schlecht bekam, da sie einzig in exzellenten Lagen zeigt, was in ihr steckt. Die allerdings nahmen zunehmend andere Sorten ein und während Nebbiolo sukzessive zum Wein der Könige aufstieg, trat Grignolino zur gleichen Zeit den sozialen Abstieg in die Bauernhütten des Monferrato an. Dass man trotzdem an ihr festhielt, beweist gleich mehreres: zum einen, dass lokale Identitäten eine fundamentale Rolle im Weltbild italienischer Winzer spielen, zum anderen, dass vielen Winzern das Potenzial der Sorte bewusst war. Zu guter Letzt passt Grignolino auch bestens zur lokalen Küche – vor allem Fisch, der im Piemont eine wesentliche wichtigere Rolle spielt als man gelegentlich annimmt.
Von einer Renaissance des Grignolino in den letzten 10 Jahren zu sprechen, wäre dennoch stark übertrieben, doch fällt auf, dass sich immer mehr exzellente Winzer mit der Sorte beschäftigen. In den richtigen Händen, vor allem jedoch in den richtigen Lagen (zu denen natürlich die richtigen Hände und Köpfe gehören, die sie dort hinsetzen) entwickelt Grignolino eine subtile, ausgewogene Textur, dessen feiner Körper unbeschwert und spielerisch Säure und Tannin integriert und neben Blütenaromen und Pfeffer, vor allem rote Beeren und je nach Terroir, steinige, kühle, erdige und salzige Details offeriert. Der Alkohol ist auch bei späten Lesen generell niedrig, das Reifepotenzial guter Grignolinos ist enorm.
Grignolino steht auch heute noch in deutlicher Opposition zu den üblichen Erwartungen, die an Rotweine gestellt werden. Sie bedarf erklärender Worte und manchmal auch einen Fürsprecher mit gewichtiger Stimme. Und so hilft die Tatsache, dass Jorge Bergoglio alias Papst Franziskus Grignolino zu seinen Lieblingssorten zählt, ganz sicher dessen Reputation zu steigern. Und das hoffentlich nicht nur in Argentinien und Polen.
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